1. |
Ode 1
06:24
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1
Der Film ist zu Ende. Die Leinwand ist weiß.
Es bleiben Bilder, die erzählt werden wollen.
Es dreht sich um eine Frau, die tagträumt.
Wie die Hasen, sagt sie, mit offenen Augen.
Sie liegt auf dem Bett. Das Laken ist weiß.
Sie ist nackt. Sie hält einen Fuchs im Arm.
Das Fuchsfell hat die Farbe der Haut einer
Blutorange, sagt sie.
Dieser Fuchs, damals, er roch nach Parfüm.
Wie er um Mutters Hals hing. Die Angst
und doch das Verlangen, ihn zu berühren,
ihm nahe zu sein, wie er Mutters Hals nahe war.
Die Frau starrt die Zimmerdecke an. Im Weiss
scheinen Risse auf, schneiden sich Linien.
Das Bett ist das Boot. Es segelt. Das Bett ist
Versteck. Die Falle. Der Käfig. Die Folter. Das
Sprungbrett. Die rettende Leiter über das Eis.
Meine Brust ist eine Blutorange, sagt die Frau
und sieht den Fuchs, der im Garten steht.
Unbeweglich. Seine roten Haare sträuben
sich im Frühlicht.
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2. |
Ode 2
06:26
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2
Der Tisch ist mit einem weißen Tuch bedeckt.
Die Frau steht an den Tisch gelehnt. Sie ist nackt.
Sie sieht Kohlköpfe aufgereiht und ihr fällt ein:
die schönste Landschaft sah aus wie gekochter
Spinat. Und weiß nicht mehr, woher ihr der Satz
kommt. Wildschweine laufen durch das Zimmer.
Was hatte ich nachts im Wald verloren, fragt die Frau.
Sie weiß es nicht mehr, nur, dass sie vor Angst
erstarrte, als plötzlich die Bache vor ihr stand
mit ihren Frischlingen. Ich bin Daphne. Ein Baum
wurde sie, an dem sich die Wildschweine rieben.
Dann hört sie ein langgezogenes Bremsen, scharfes
Zischen, und das Geräusch von Hartem, das
schwer auf Weiches trifft.
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3. |
Ode 3
07:35
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3
ODuLamm ODuLamm ODuLamm läuft es,
Dudelmusik, in ihrem Kopf. Kirchenlied Kinder-
zeit. Wie ging es weiter? Was wollen die Lämmer
hier? Die Frau liegt auf dem OP-Tisch. Teils
bedeckt mit weißen Tüchern. Helles Licht.
Mein Lämmchen, liebes Lämmchen, wo tut es weh?
Wie der Vater das sagte. Sie wollte kein Lämmchen
sein. Nein. ODuLamm ODuLamm ODuLamm.
Es tut doch nicht weh. Hört sie. Von Fern. Nah:
das habe ich noch nicht erlebt, in all den Jahren
Praxis nicht, dass jemand unter Narkose singt!
Und diese Augen, der Blick lässt mich nicht los.
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4. |
Ode 4
02:45
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4
Festhalten. In der Mähne. Fest um den Hals!
Hat nicht genützt. Sie ist gestürzt. Vom Pferd gefallen.
Liegt sie da. Das Pferd über ihr. Schaut sie an.
Lämmchen, liebes Lämmchen, tut es weh? Der Vater:
Was machst du nur! -Das Pferd weint. Es weint!
-Ach Lämmchen, Tiere weinen nicht. Nie.- Doch.
Geht sie, Gänsemagd, Oh Jungfer da du gangest,
Oh Fallada, da du hangest, durch das große Tor.
Ausgezeichnet, ganz ausgezeichnet. Sezieren , das
ist eine Kunst, Herr Kollege, wir sind Künstler!
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5. |
Ode 5
04:36
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5
Die Frau sitzt am Schneehang. Nackt. Friert. Trotz
der Decke aus vier Hasen, die sich, zitternde Hasen
Felle, ängstlich an sie klammern. Die Schneekönigin
bin ich nicht. Saßen einst vier Hasen, fraßen ab
den grünen, grünen Klee. Dann das Rennen. Haken
schlagen. Angst haben. Mit offenen Augen träumen,
so wie ich, sagt die Frau, so wie ich. Von Ferne
ist das Dröhnen von Flugzeugmotoren zu hören.
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6. |
Ode 6
07:28
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6
Über den gefrorenen See jagen zwei Leoparden.
Auf die Frau zu. Springen sie an, reißen sie um.
Nicht die Prizessin auf dem Eis bin ich, Ich bin
die Gänsemagd. Fallada war mein Pferd. Es weint.
Die Jäger warten schon. Seltsam jetzt die Stille.
In die hinein reisst das Eis, birst, bricht mächtig auf.
Das Dröhnen der Flugzeugmotoren ganz nah.
Es schneit kleine Totenköpfe.
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7. |
Ode 7
05:44
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7
Kein Haus. Zuflucht. Kein Unterkommen. Kein Schutz
Raum. Bloß liegen. Im Gletscherfeld. Nackt. Die Falle.
Da hilft nichts. Nicht das Wegducken wie die zwei
Leoparden. Flach liegen. Die Augen weit offen, sieht
die Frau hoch über sich die dröhnenden Aeroplane.
Die haben es in sich, sagt sie, drei schwarze Engel, die
Flügel gespannt.
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8. |
Ode 8
10:30
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8
Kein Boden mehr. Keine Decke. Die Wände fallen.
Der Raum offen nach allen Seiten. Wide white space.
Die Frau, schwerelos, schwebt inmitten. Sie singt.
Und die Dinge und die Tiere, die um sie kreisen,
verschwimmen in einvielfarbiges Bunt. Und jetzt bin ich
die Gänsemagd und Daphne und die Eisprinzessin,
die Schneekönigin bin ich. Und immer ich. Ich.
Und ein Rauschen macht sich bemerkbar, schwillt an,
aus dem in Intervallen leise, kaum hörbar,
ODuLamm ODuLamm ODuLamm tönt und das viel-
farbige Bunt beginnt zu zerfließen, sich aufzulösen,
verschwindet im Raum, und auch die Frau beginnt
zu zerfasern, sich aufzulösen, verschwimmt, verschwindet.
Und der Raum ist weit und weiß und leer. Und das
Rauschen ist stark, stärker, allmächtig.
Der Film ist zu Ende. Die Leinwand ist weiß.
Es bleiben noch Bilder, die erzählt werden wollen.
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9. |
Nahe Tode Part I
15:34
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Mutters Vater
Mutters Vater starb zuhaus
in seinem Eichenbett.
Ich lachte, als sie sagten:
Schuhe, Stock und Hut
hätt er zuletzt verlangt.
Ich dachte an das frohgemute
wohlbekannte Kinderlied.
Vaters Vater
Vaters Vater ist gefallen
1916 an der Somme.
Grabenkrieg. An einem Tag
zigtausend Mann Verlust.
Auf beiden Seiten. Gewinn
am Ende- kein Meter Land.
Es kam mir in den Sinn
das Kinder-Wiegen-Lied.
Mutter
Hinter der Gardine stand sie.
Ich sah ihre winkende Hand.
Das war das Letzte, was ich sah
von ihr. Am Telefon der Bruder
"Setz dich!" sagte er. "Sie ist tot."
Zwischen den Wäschestücken
Briefe. Gebündelt, verschnürt.
Meine eigenen. Seit Kind.
Vater
Sein Händedruck, als wir sangen,
leicht, aber spürbar, dass ich erschrak.
Seit Wochen lag er. Die Augen zu.
Sprach nicht mehr. Intensivstation.
Wir singen. Leise. "Im Chor war er
seit er 15 war und bis 80. Singen
das war sein Leben. Ohne Stimme
kenne ich ihn nicht mehr", sagte
die Mutter in unser Lied. Weinte.
Die Schwester
Wir halten uns ans Beten. Hilflos.
Sie betet mit. Die halbe Nacht.
Wir sind ein Atmen.
Im Morgengrauen dann:
"Die Augen. Schau auf die Augen!"
sagte mir einmal ein Kameramann.
Die Augen offen. Weit. Kein Blick
mehr. Wir beten laut. Allein.
Es ist kein Film.
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10. |
Nahe Tode Part II
15:37
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o.T.
für W.W.
Wir sitzen, wir warten.
Vor uns, Föhnbild, die Berge,
neben mir auf dem Stuhl
das gewidmete Buch. Der Wind
blättert die Seiten um.
Ich erinnere mich nicht mehr,
wer von uns sagte und wann:
„In die Berge verschwinden,
das wäre ein schöner Tod.“
Und ob wir damals verwundert
schauten oder nickten oder leise
lachten, weiß ich nicht mehr.
Wir sitzen, wir warten.
Vor uns, Umriss, die Berge,
jetzt schwarz.
Dann war das
für A.
Wie sagte ein gleichaltriger Freund -
wir standen am Fenster und schauten
auf den alten Flussarm im Mondlicht- :
„30 wollten wir werden, nicht mehr.
Jetzt sind wir 10 Jahre älter als doppelt
so alt wie wir sagten“, und er öffnete
das Fenster weit, sog die kalte Luft
aus dem nächtlichen Park tief ein:
„Diese Bäume werden uns überleben“,
und er nickte zu den zwei hundert -
jährigen Kastanienbäumen hin,
„Und das ist gut so“, sagte ich, „gut so.“
Polen offen
Tadeusz Różewicz nachgerufen
Da sitzt er unter den hundertjährigen
Bäumen. Und rührt in der Tasse.
Lange. Lächelt. Versonnen
schaut er in das bewegte Laub.
Das Geräusch des kleinen Löffels
in der Tasse. Und das der Blätter. .
Wir sitzen. Und sagen nichts. .
Das war damals.
In der Hand halte ich eine Postkarte,
auf der er anfragt:
„Aus welchem Material waren
die Handschuhe der deutschen
Wehrmachtsoffiziere?“
Alles hat er klein geschrieben.
Aus dem Fenster schaue ich
in die Bäume, unter denen er saß,
offen für Fragen, die ich nicht fragte.
Ich lege die Karte zu den anderen.
Später
für Thomas K.
Kein Zweifel: glaub ich dir,
du malst die Wunden blind,
und lächelnd nennst du mir,
die blinden Glaubens selig sind.
Doch legst du selber Hand an,
vertraust du deinen Augen nur.
Die Spur der Farben auf der Leinwand
verfolgst du staunend nach,
wie sie zum Bild gerinnen.
Zu spät
für Thomas K.
Du sagst nichts mehr: du bist
nur noch Gedanke, Farbe, Bild.
Wir stehen da und sehen
den Neujahrsmorgen und Kalvaria,
und wissen nicht, was du jetzt weißt,
und zweifeln noch, und glauben doch
den Christuskopf zweifach.
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Christof Thewes Schiffweiler, Germany
www.christofthewes.de
arbeitet als Posaunist, Komponist+Arrangeur .
leitet
verschiedene Ensembles und Musikprojekte von Solo bis Big Band, die sich zwischen modernem Jazz, freier Improvisation und Neuer Musik bis hin zu experimenteller Rock, Funk und Popmusik bewegen.
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